Im Labor der Extreme
von Gustav Mechlenburg
Nur zwei Buchstaben unterscheiden die Astronomie von der
Astrologie. Und vom Wahnsinn trennt sie beide nur ein schmaler Grat.
Bruder und Schwester Zweig haben es nicht ganz leicht miteinander.
Marthe ist Kunstdozentin, Frank Physiker. Sie sind sich nicht eben
ähnlich. Sie neigt zur Esoterik, er zum Vernünfteln. Ein
Jahr nach dem Tod des Vaters machen sich die Geschwister an die
Auflösung seines Haushalts und geraten dabei aneinander. Mit
Sätzen wie "Ich finde einfach, die Physik ist spirituell zu
brutal" bedrängt Marthe ihren Bruder, sich Sphären
jenseits seiner physikalischen Logik zu öffnen. In der großen
Einsamkeit der Observatorien aber, weit oben auf den von
Lichtverschmutzung freien Berggipfeln, kann diese Art Offenheit
schnell lebensbedrohlich werden. Man dreht durch. Einem Kollegen
passiert ebendies, und Frank muss sich vor der EU rechtfertigen. Das
Ergebnis ist Ulrich Woelks neuer Roman "Die Einsamkeit des
Astronomen".
Schreiben ist auf Dauer keine sinnvolle Beschäftigung für
einen Physiker, weil sich die Präzision der Sprache nicht
beliebig steigern lässt", hieß es in Ulrich Woelks
Romandebüt "Freigang", der 1990 erschienenen
Vorgeschichte zu seinem aktuellen Buch. Trotzdem wandte sich auch der
1960 geborene Ulrich Woelk, nachdem er nach einem Physikstudium
einige Zeit als Astrophysiker mit dem Spezialgebiet Doppelsterne
tätig war, ab 1994 ganz der Romanschriftstellerei zu und
bestückte viele seiner Romane mit Elementen aus seiner
wissenschaftlichen Vergangenheit. Anfang des Jahres erst konnte man
von ihm die Sommererzählung "Einstein on the Lake"
lesen.
Und folglich kann auch der Astrophysiker Frank Zweig nicht vom
Schreiben lassen. Er soll einen Bericht verfassen, um die Vorgänge
in der Schwarzschild-Sternwarte auf den Fernstein-Gipfel zu klären.
Drei Millionen Euro wurden in den Sand gesetzt, weil die Kuppel des
Observatoriums während eines Schneetreibens geöffnet wurde
und die teuren astronomischen Instrumente dadurch zerstört
wurden. Nun sitzt der Beschuldigte Lozki in der Psychiatrie. Der
Icherzähler wiederum wird beschuldigt, sich über den
Zustand seines irren Kollegen im Klaren gewesen zu sein und ihn
dennoch allein in der Sternwarte zurückgelassen zu haben.
Doch der Bericht, der Frank aus den bürokratischen Schlingen
befreien soll, schweift ab, und was wir lesen können, wird der
EU-Kommission kaum etwas nutzen. Das weiß der Erzähler
auch und entschuldigt sich bei den Damen und Herren
Forschungsfunktionären dafür. Es kommt ihm vor, als löse
er eine komplizierte Gleichung mit einer stattlichen Reihe von
Unbekannten. "Offizielle Leser dieser Zeilen! - Das Universum
ist ein Labor der Extreme."
Der Schriftsteller Woelk liebt Gegensätze. Wie in seinem
letzten Roman, dem Krimi "Die letzte Vorstellung", in dem
er Gut und Böse, Ost und West, RAF und Stasi gegeneinander
ausspielte, nutzt er auch in "Die Einsamkeit des Astronomen"
die bis ins Klischee hinein übertriebenen Extrempositionen
seines Personals wunderbar aus. Die Spannung zwischen Physik und
Esoterik, Rationalität und Emotionalität durchzieht das
gesamte Buch. Doch bei genauerem Hinsehen sind die Gegensätze
relativer, als es die stereotype Sprache der Protagonisten vermuten
ließe.
Die anfangs gefühlvoll erscheinende Schwester, deren
Kinesiologin ihr bescheinigt, seit Papas Tod emotional nicht mehr im
Gleichgewicht zu sein, entwickelt sich plötzlich zur
pragmatischen Endverwalterin ihres Vaters. Die Grabpflege wird flott
gelöst und mit einem Kunstevent, bei dem sie ihre Studenten zu
Mozarts "Don Giovanni" im Garten einen Komtur aus den
Erbschaftsbeständen bauen lässt, löst sie die leidige
Haushaltsauflösungsfrage auf geschmacklos groteske Weise. Frank dagegen versucht ständig, seine Rationalität zu
rechtfertigen: "Wem schadet es, dass ich vernünftig bin?
Ist Vernunft therapiebedürftig? Was fehlt denn? Eitelkeit und
Habgier? Oder Esprit und Magie? Ich bin Astronom und kein Zauberer."
Andererseits ist er es, der emotional an dem väterlichen Erbe
hängt und mit der Irrationalität seines psychisch kranken
Kollegen Lozki sympathisiert. "Wir sehen einen winzigen Krümel
vom Kuchen der Realität", ist Lozki sich damals sicher
gewesen und hielt deshalb zu John Cages "Four Walls" nach
außerirdischem Leben Ausschau. Das Musikstück tat schon
dem Komponisten nicht gut. Zwei Jahre nach Vollendung des Werks zog
Cage ernsthaft in Betracht, das Komponieren aufzugeben und sich einer
Psychoanalyse zu unterziehen, wandte sich aber stattdessen der
asiatischen Philosophie und dem Zen-Buddhismus zu. Der stets mit
weißen Baumwollhandschuhen bewaffnete Exzentriker Lozki wählt
stattdessen den autistischen Weg. Von seinem Neurologen wird er darin
nur bestätigt: Das Gehirn ist absolut und die Welt relativ. Was
in unseren Köpfen stattfindet, ist die Wahrheit.
Das ist zwar eine vollkommen logische Position, allerdings eine
einsame. Und wer nicht in der Lage ist, wie seine Kollegen über
die Existenz außerirdischen Lebens "mit der hartnäckigen
Routine eines alten Ehezwistes über die richtige Kochzeit von
Frühstückseiern zu streiten", bleibt eben für
sich. Woelk persifliert in "Die Einsamkeit des Astronomen" das
Genre des Wissenschaftsromans und macht die Aufzeichnungen des Frank Zweig
geschickt und komisch zu einer psychoanalytischen Offenbarung. Die
Beobachtung verändert das Beobachtete. So besteht der Witz in
diesem Roman im dauernden
Wechsel der Perspektiven und Lebensanschauungen, auf dass dem Leser
das Teleskop nur so um die Ohren fliegt.